Fusel
Das Erste, das sie bemerkte, war die blaßrote Flüssigkeit, die langsam aus dem Flaschenhals tröpfelte und in der sommerlichen Wärme einen unangenehmen Geruch entfaltete. Sie rümpfte die Nase. Die Flasche war dem Obdachlosen offenbar aus der Hand gefallen und lag schräg über seinem linken Bein. Statt friedlich seinen Rausch auszuschlafen, saß der Mann mit offenen Augen merkwürdig verdreht an der Wand. Sie schaute genauer hin. Sollte sie ihn ansprechen? Besser nicht. Sie hatte es ohnhin eilig.
Durch die Glastür konnte sie zwei Polizisten sehen, die auf dem Bahnhofsvorplatz standen. Kurzentschlossen ging sie auf die beiden zu.
„In der Halle ist ein Obdachloser, mit dem etwas nicht zu stimmen scheint. Sie sollten sich den mal ansehen. Ich glaube, der braucht Hilfe. Er sitzt gleich neben der Treppe, die hoch zu den Gleisen führt. Trägt ein braunes Jacket und Winterschuhe.“
Der Beamte tauschte kurz einen Blick mit seiner Kollegin aus. „Danke, wir werden der Sache nachgehen,“ sagte er.
Kurze Zeit später standen die beiden vor dem halb sitzenden, halb liegenden Mann.
„Kennste den?“
„Kommt mir zumindest bekannt vor. War sicher schon öfters hier,“ meinte die Polizistin.
Ihr Kollege begann auf den reglosen Mann einzusprechen. Nachdem der Obdachlose nicht darauf reagierte, rüttelte er ihn ungeduldig an der Schulter.
Der Mann rutschte zur Seite. Die Flasche entglitt ihm endgültig und kullerte davon.
Seufzend sammelte die Polizistin sie ein und warf sie in einen Abfalleimer. Als sie sich wieder ihrem Kollegen zuwandte, war er dabei eine Nummer in sein Handy zu tippen.
„Ein Fall für den Arzt?“
Ihr Kollege nickte und begann ins Handy zu sprechen.
Wenig später traf die Ambulanz ein.
Der Notarzt hockte sich neben den Obdachlosen und untersuchte ihn schnell. „Da kann ich nichts mehr machen. Er ist tot.“
Bevor der Tote abtransportiert wurde, suchte der Polizist bei ihm nach Papieren und fand in der Innentasche des Jackets einen Personalausweis auf den Namen Frank Sawitzki.
„Wird sein eigener sein,“ sagte er nachdem er einen kritischen Blick auf das Gesicht des Toten geworfen hatte.
Außer einer prall gefüllten Aldi-Tüte hatte der Obdachlose keine weiteren Habseligkeiten bei sich. Die Polizistin ging den Inhalt der Tüte mit ihrem Kollegen sorgfältig durch: verschiedene verdreckte Kleidungsstücke, eine leere verkrumpelte Zigarettenschachtel, ein halbgegessenes Brötchen und ein gläserner Briefbeschwerer.
„Manchmal denke ich, ich sollte bei der Arbeit immer Handschuhe tragen.“
„Bei so'ner Hitze wie heute?“
„Besonders an einem Tag wie heute!“ Die Beamtin roch an ihrer Hand und verzog angewidert ihr Gesicht.
„War das jetzt alles?“
„Nee, da iss' noch was.“ Die Polizistin zog ein dünnes Büchlein in einer Plastikhülle aus der Tüte.
Ihr Kollege lachte. „Ein Postsparbuch! Na, ob er da seine Tageseinnahmen immer schön eingezahlt hat?“
Die Polizistin blätterte in dem Sparbuch. „Das gibt’s nicht!“
„Was denn?“ Ihr Kollege beugte sich vor.
Sie sah auf. „Da sind fast 500 000 Euro drauf.“
„Wat? Verscheissern kann ick mir ooch selber!“ Ihr Kollege entriss ihr das Sparbuch. „Tatsächlich! 497 564 Euro.“ Er blätterte zurück. „Ist auf den Namen Frank Sawitzki ausgestellt.“ Er blickte mit neuem Respekt auf den toten Mann vor ihm.
© Sylvia Bolton, 2009
Durch die Glastür konnte sie zwei Polizisten sehen, die auf dem Bahnhofsvorplatz standen. Kurzentschlossen ging sie auf die beiden zu.
„In der Halle ist ein Obdachloser, mit dem etwas nicht zu stimmen scheint. Sie sollten sich den mal ansehen. Ich glaube, der braucht Hilfe. Er sitzt gleich neben der Treppe, die hoch zu den Gleisen führt. Trägt ein braunes Jacket und Winterschuhe.“
Der Beamte tauschte kurz einen Blick mit seiner Kollegin aus. „Danke, wir werden der Sache nachgehen,“ sagte er.
Kurze Zeit später standen die beiden vor dem halb sitzenden, halb liegenden Mann.
„Kennste den?“
„Kommt mir zumindest bekannt vor. War sicher schon öfters hier,“ meinte die Polizistin.
Ihr Kollege begann auf den reglosen Mann einzusprechen. Nachdem der Obdachlose nicht darauf reagierte, rüttelte er ihn ungeduldig an der Schulter.
Der Mann rutschte zur Seite. Die Flasche entglitt ihm endgültig und kullerte davon.
Seufzend sammelte die Polizistin sie ein und warf sie in einen Abfalleimer. Als sie sich wieder ihrem Kollegen zuwandte, war er dabei eine Nummer in sein Handy zu tippen.
„Ein Fall für den Arzt?“
Ihr Kollege nickte und begann ins Handy zu sprechen.
Wenig später traf die Ambulanz ein.
Der Notarzt hockte sich neben den Obdachlosen und untersuchte ihn schnell. „Da kann ich nichts mehr machen. Er ist tot.“
Bevor der Tote abtransportiert wurde, suchte der Polizist bei ihm nach Papieren und fand in der Innentasche des Jackets einen Personalausweis auf den Namen Frank Sawitzki.
„Wird sein eigener sein,“ sagte er nachdem er einen kritischen Blick auf das Gesicht des Toten geworfen hatte.
Außer einer prall gefüllten Aldi-Tüte hatte der Obdachlose keine weiteren Habseligkeiten bei sich. Die Polizistin ging den Inhalt der Tüte mit ihrem Kollegen sorgfältig durch: verschiedene verdreckte Kleidungsstücke, eine leere verkrumpelte Zigarettenschachtel, ein halbgegessenes Brötchen und ein gläserner Briefbeschwerer.
„Manchmal denke ich, ich sollte bei der Arbeit immer Handschuhe tragen.“
„Bei so'ner Hitze wie heute?“
„Besonders an einem Tag wie heute!“ Die Beamtin roch an ihrer Hand und verzog angewidert ihr Gesicht.
„War das jetzt alles?“
„Nee, da iss' noch was.“ Die Polizistin zog ein dünnes Büchlein in einer Plastikhülle aus der Tüte.
Ihr Kollege lachte. „Ein Postsparbuch! Na, ob er da seine Tageseinnahmen immer schön eingezahlt hat?“
Die Polizistin blätterte in dem Sparbuch. „Das gibt’s nicht!“
„Was denn?“ Ihr Kollege beugte sich vor.
Sie sah auf. „Da sind fast 500 000 Euro drauf.“
„Wat? Verscheissern kann ick mir ooch selber!“ Ihr Kollege entriss ihr das Sparbuch. „Tatsächlich! 497 564 Euro.“ Er blätterte zurück. „Ist auf den Namen Frank Sawitzki ausgestellt.“ Er blickte mit neuem Respekt auf den toten Mann vor ihm.
© Sylvia Bolton, 2009