Die Tafeln in Deutschland
„Dankbare Gesichter sind unser Lohn.“ (Jahresbericht der Münchner Tafel von 2011)
Letztes Jahr haben die Tafeln in Deutschland ihr 20jähriges Bestehen gefeiert. Gleichzeitig wurde das Aktionsbündnis20 ins Leben gerufen, das sich bewusst gegen das allgemeine Lob für die Organisation wandte und sich sehr kritisch zu der Ausbreitung und Institutionalisierung der Tafeln äußerte. Nachdem inzwischen fast jede größere Ortschaft in Deutschland über eine Tafel, oder eine ähnliche Einrichtung, verfügt, muss man sich fragen, woher dieser schier unstillbare Bedarf kommt, inwiefern hier versucht wird, Menschen zu helfen und ob die Tafeln die beste Lösung darstellen.
Nach dem Vorbild des Wohlfahrtsverbandes City Harvest in New York wurde 1993 von Sabine Werth und der Berliner Frauen e. V. die erste deutsche Tafel gegründet. Frische Lebensmittel, die von Supermärkten, Restaurants, etc. nicht mehr benötigt und weggeschmissen werden, sollten eingesammelt werden und Obdachlosen in Berlin zugutekommen. Das Konzept erwies sich als erfolgreich und machte Schule.
Zu der Tafel in Berlin kamen recht schnell andere in größeren Städten hinzu und so gab es nur drei Jahre später schon 70 Tafeln. In den Folgejahren nahm die Zahl der Tafeln deutschlandweit rapide zu, wobei ein besonders eklatanter Anstieg nach der Einführung der Hartz IV Gesetzgebung zu sehen ist. So stiegen die Tafeln von 480 (2005) auf 657 (2006) an. Inzwischen gibt es über 900 Tafeln in Deutschland, bei denen 50 000 ehrenamtliche Helfer mitarbeiten, um (meist einmal wöchentlich) Lebensmittel an 1,5 Millionen Menschen zu verteilen. Neben diesen offiziellen Tafeln gibt es aber noch unzählige vergleichbare Einrichtungen der Caritas, Diakonie, AWO, etc. die in den Statistiken der Tafeln nicht auftauchen.
Was bei der Gründung als vorübergehende Hilfsmaßnahme gedacht war, entwickelte sich also in den letzten 21 Jahren zu einem flächendeckenden System, das immer mehr Menschen in Anspruch nehmen (müssen). Der Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Tafel Jochen Brühl fasste die Situation jüngst wie folgt zusammen: „Wir erleben, dass Armut und Armutsbedrohung weiter verbreitet ist als die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht vermittelt. Wir beobachten schon seit Längerem die Tendenz, dass neben ALG-II-Empfängern auch Menschen zu uns kommen, die Arbeit haben. Das sind vor allem Alleinerziehende und ihre Kinder, prekär Beschäftigte und Teilzeitkräfte. Altersarmut ist damit vorprogrammiert. Seit letztem Jahr beobachten wir außerdem, dass auch vermehrt Studenten zu den Tafeln kommen.“ (Abendzeitung, 27.5.2014).
Dass bezahlte Arbeit nicht unbedingt für ein finanzielles Auskommen sorgt, belegen auch die Statistiken, die von der Bundesagentur für Arbeit herausgegeben werden. Neben der „reinen“ Arbeitslosenquote wird nun auch immer die Unterbeschäftigungsquote aufgeführt. In Berlin waren im Mai 2014 11,1% Menschen arbeitslos und 14,9% unterbeschäftigt, d. h. auf Transferleistungen vom Staat angewiesen. In München liegt aktuell die Zahl der Arbeitslosen bei 3% und die Zahl der Unterbeschäftigten bei 3,8. Diese Zahlen spiegeln sich in den Zahlen der Tafelnutzer wieder. Die Berliner Tafel hat 45 Ausgabestellen und versorgt 300 soziale Einrichtungen, in München gibt es 45 Ausgabestellen und 85 Einrichtungen erhalten Esswaren.
Dass in der wohlhabenden bayerischen Landeshauptstadt über 18 000 Menschen als offiziell bedürftig gelten und die Tafel in Anspruch nehmen müssen, scheint zuerst kaum fassbar. Tatsächlich existiert die Münchner Tafel schon seit 1994 und sowohl die Anzahl der Tafelnutzer als auch die Organisation ist mit jedem Jahr umfangreicher geworden. Heute arbeiten neben den 28 festangestellten Mitarbeiter der Münchner Tafel noch 450 ehrenamtliche Helfer mit. Noch beeindruckender bzw. erschütternder werden diese Zahlen, wenn man sich die Einnahmen und Ausgaben der Münchner Tafel für das Jahr 2011 ansieht. 2011 wurden 1.270.000 Euro eingenommen und 1.350.000 Euro ausgegeben. Die Größenordnung dieser Zahlen verdeutlich mehr als alles andere, dass Stefan Selke recht hat, wenn er von den über 900 Tafeln als einer Parallelökonomie spricht, die erschreckende Ausmaße angenommen hat.
Wie fragil dieses auf Freiwilligkeit gegründete Hilfssystem letztendlich ist, zeigt sich daran, dass die Münchner Tafel schon 2011 gezwungen war, zusätzlich zu den gespendeten Lebensmitteln noch weitere zu kaufen, um den Bedarf decken zu können. Aufgrund eigener wirtschaftlicher Schwierigkeiten war es nämlich vielen Spendern nicht mehr möglich gewesen, im gleichen Umfang wie vorher zu spenden, gleichzeitig war die Zahl der Tafelnutzer weiter angewachsen. Dass es sich hier nicht um ein isoliertes Problem handelt, kann man der Webseite der Deutschen Tafel entnehmen. Dort heißt es unter Aktuelle Entwicklungen „Die Menge der gespendeten Lebensmittel ist tendentiell steigend, aber nicht in der Geschwindigkeit, in der die Nachfrage steigt“ und „Das Spendenaufkommen variiert regional stark.“ Letztere Feststellung entlarvt die Achillesferse dieses Hilfssystems. So ist z. B. der Bedarf nach Tafeln in den neueren Bundesländern tendenziell sehr hoch, aber die Tafeldichte entspricht dem nicht. Auch kann es, wie bei der Münchner Tafel, schnell zu Engpässen können, wenn sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht genug Spender finden.
Die Tafeln selbst sehen ihren Auftrag so: „Die Tafeln schaffen eine Brücke zwischen Überfluss und Mangel: Sie sammeln qualitativ einwandfreie Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden, und verteilen diese an sozial und wirtschaftlich Benachteiligte – kostenlos oder zu einem symbolischen Beitrag.“ Nach drei Jahren als ehrenamtlicher Helfer bei der Tafel in Emmerdingen sieht Wolfgang Wimmer sein Engagement jedoch mit gemischten Gefühlen. „Es ist recht, an Bedürftige von dem abzugeben, was im Überfluss da ist. Allerdings schafft man damit keine Balance und keine Gerechtigkeit.“ (Wolfgang Wimmer, Handeln im Widerspruch, 2010) Stefan Selke geht in seiner Kritik an den Tafeln wesentlich weiter. „Die konkrete Hilfe lindert zwar im Hier und Jetzt die Armutslage der Betroffenen, verschärft aber langfristig das Ausgangsproblem. Die eigentlichen Ursachen für prekäre Lebensverhältnisse ändern sich nicht einfach dadurch, dass einige der dringendsten Bedarfslücken (Lebensmittel, Möbel, Kleider, Kinokarten) kurzfristig gedeckt werden.“ (Stefan Selke, Schamland, S.201). Selke zufolge werden durch die Tafeln die ökonomischen Unterschiede und die damit verbundene Spaltung der Gesellschaft weiter zementiert. „Wenn sich Armutsökonomien aus einem spontanen Nothilfeversprechen zu einem stabilen und durchorganisierten System entwickeln und wenn sich darüber hinaus immer mehr Menschen auf diese Angebote verlassen, dann entstehen allein dadurch Parallelwelten, dass sie ihre materiellen Bedürfnisse an Orten befriedigen, die von der Mehrheitsbevölkerung gerade nicht aufgesucht werden.“ (Schamland S.200/1) Er kritisiert darüber hinaus, dass in der öffentlichen Meinung ein unkritisches und positives Bild der Tafeln vorherrscht und deshalb die eigentlichen Ursachen für die ständig zunehmende Armut in Deutschland weder gesehen noch bekämpft werden.
Das freiwillige Engagement und der persönliche Einsatz der ehrenamtlichen Helfer werden oft öffentlich anerkannt. Selke meint dazu: „Freiwilliges Engagement nimmt sowohl praktisch als auch symbolisch einen immer größeren Stellenwert in unserer Gesellschaft ein, ... Freiwilliges Engagement kann aber auch als Reflex auf den Umbau des Sozialstaats verstanden werden, der einer immer rigideren Ökonomisierung zum Opfer fällt.“ S.208). Später weist Selke auf die Gefahren hin, wenn Wohltätigkeitsorganisationen vormals staatliche Aufgaben ersetzen: „Die Frage ist also nicht, ob freiwilliges Engagement sinnvoll ist, sondern wo es angemessen ist. ... Freiwillige operieren zunehmend in Verantwortungsbereichen, die hoheitlichen dem Sozialstaat zuzurechnen sind. ... Statt Armutslagen durch sozialstaatliche – also formalisierte und anonymisierte – Solidaritätsbeziehungen zu bewältigen, bedeutet diese Form des freiwilligen Engagements einen Rückschritt in die feudalen Abhängigkeiten von Spender- und Helferwillen.“ (S.211) Gegen Ende seines Buches schließt Selke folgendes Fazit: „Tafeln sind eine moderne Form der Absolution, sie lindern das schlechte Gewissen der Gewinner. Sie helfen dabei, den Rückspiegel auf die eigene Gesellschaft so zu verdrehen, dass darin das Armutsproblem verschwindet.“( S. 227)
Den Titel seines Buches Schamland erklärt Stefan Selke so: „Armutsbetroffene Personen, die Tafeln in Anspruch nehmen, fühlen sich auf bislang nicht da gewesene Art beschämt und rechnen sich in der Folge selbst nicht mehr zur Mehrheitsgesellschaft. (Schamland, S.26) Um bei einer der Tafeln Lebensmittel zu bekommen, müssen die Personen erst einmal ihre Bedürftigkeit nachweisen (amtliche Nachweise über Hartz-IV Bezug bzw. ähnliche staatliche Transferleistungen). Auch wenn diese Regelung den Missbrauch der Tafeln verhindern soll, ist schon diese Voraussetzung demütigend für die betroffenen Personen. Mit der konkreten Hilfe geht auch eine gewisse Bevormundung einher. Fehlt jemand bei der Münchner Tafel mehr als dreimal unentschuldigt, wird ihm der Berechtigungsausweis entzogen und der nächste auf der Warteliste rückt nach (andere Tafeln haben die gleiche oder ähnliche Regelungen). Dass sich die viel gepriesenen freiwilligen Helfer zuweilen doch auch eine „Gegenleistung“ erhoffen, wird spätestens dann deutlich, wenn man sieht, dass bei einer Ausgabestelle der Berliner Tafel der dortige Pfarrer den Tafelnutzern einen kostenlosen „Alphakurs“ (Glaubensgrundkurs) anbietet.
Viele Tafeln finden unter freien Himmel statt, weshalb Helfer und Nutzer jedem Wetter ausgesetzt sind. Viel schlimmer ist jedoch für viele Nutzer, dass dadurch ihre Nutzung der Tafel für andere am Ort deutlich sichtbar wird. Beim Warten in der Schlange gesehen zu werden, empfinden sie als eine doppelte Demütigung. Zum einen, weil sie aufgrund ihrer miserablen materiellen Situation gezwungen sind die Tafel zu nutzen und dann, weil sie – als Tafelnutzer geoutet --in den Augen anderer jeglichen gesellschaftlichen Status verlieren. Angesichts solcher von Tafelnutzern immer wieder zum Ausdruck gebrachter Empfindungen von Scham muss einem der Abschlusssatz des Jahresberichts der Münchner Tafel von 2011 („Dankbare Gesichter unserer Gäste sind unser Lohn.“) wie blanker Hohn erscheinen.
Neben der persönlichen Tragik für die von Armut betroffenen Menschen gibt es auch weitreichende Kosten für unsere Gesellschaft und Demokratie. Menschen, die sich selbst nicht mehr zur Mehrheitsgesellschaft zählen, versuchen in der Regel erst gar nicht mehr, diese Gesellschaft konstruktiv mitzugestalten. Sie ziehen sich zurück, werden passiv. Auch die politische Partizipation schwindet meist, oder bewegt sich in extremistische Richtungen. Mecklenburg-Vorpommern (Arbeitslosenquote aktuell 10,9%, Unterbeschäftigtenquote 14,4%) hatte bei der letzen Landtagswahl eine Wahlbeteiligung von 52% und die NPD bekam 5 Sitze im Landesparlament. Im Gegensatz dazu hatte das wirtschaftlich wesentlich bessergestellte Baden-Württemberg (Arbeitslosenquote im Mai 2014 3,9%, Unterbeschäftigtenquote 5,2) eine Wahlbeteiligung von 66,3% und ausschließlich Parteien der politischen Mitte im Landesparlament.
Es ist klar, dass nicht nur in Deutschland die Verteilung der Güter auseinanderklafft und die verschiedenen Gesellschaftsschichten immer weiter auseinanderdriften. Auch klar ist, dass die Situation in anderen Ländern noch weit dramatischer ist. Aber auch hier nimmt das immer steiler werdende soziale Gefälle inzwischen gefährliche Formen für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, für unsere Demokratie, an. Wir müssen etwas tun. Wohltätigkeit ist langfristig nicht der richtige Weg. Weder hier noch anderswo. Wir brauchen politische Lösungen.
Aktuelle Zahlen (Stand Ende 2017): 20 000 Menschen besuchen die Münchner Tafel pro Woche. Von 650 ehrenamtlichen Helfern werden 120 000 Kg Lebensmittel verteilt. Inzwischen sind 40% der Tafelbesucher Senioren, Tendenz steigend. (Zu Beginn vor 24 Jahren kammen 400 Leute.)
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