Die Tafeln in Deutschland wachsen weiterhin. Inzwischen werden die Tafeln von 1,65 Millionen Menschen genutzt. Die Zahlen lassen auch erkennen, dass nicht alle Teile der Bevölkerung dem Armutsrisiko gleich ausgesetzt sind. Gerade bei älteren Menschen steigt die Nachfrage. Im letzten Jahr ist die Zahl der Rentner um 20% auf 430 000 Personen gestiegen. 20-30% der Tafelnutzerinnen sind alleinerziehende Mütter. Zu den Kunden gehören auch 500 000 Kinder und Jugendliche. Dass es die Tafeln überhaupt geben kann, ist den ehrenamtlichen Mitarbeitern zu verdanken. Mittlerweile arbeiten 62 000 Personen ehrenamtlich bei 940 Tafeln.
Jochen Brühl, der Vorsitzende der Tafel in Deutschland, hat vor Kurzem ein Buch mit dem Titel „Volle Tonnen, leere Teller“ veröffentlicht. Das Buch besteht aus Gesprächen, die Brühl mit 17 Personen geführt hat. Es kommen u.a. die Gründerin der Tafel, Unternehmer, Politiker, Prominente und Geistliche zu Wort. Im Vorwort schreibt der Journalist Heribert Prantl: „Es wäre eine Katastrophe, wenn es die Tafeln nicht mehr gäbe. Es ist aber auch eine Katastrophe, dass es sie geben muss. Ein Staat, der tausend Tafeln braucht, ist kein guter Sozialstaat.“ (S.9) Die Tafeln lindern die Armut, aber ihre bloße Existenz verfestigt auch ungute gesellschaftliche Strukturen. Am deutlichsten wird das bei den jungen Menschen, die auf die Tafeln angewiesen sind. Brühl sagt dazu: „Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt dauerhaft in einer Armutssituation, oft bildungsfern und perspektivlos – aber es fehlt der Aufschrei in der Bevölkerung.“ (S.220)
Die Linderung der Armut führt zudem bei weiten Teilen der Bevölkerung dazu, dass das stetig wachsende Problem der Armut in Deutschland nicht als solches wahrgenommen wird. Häufig publizierte Zahlen über Wirtschaftswachstum und niedrige Arbeitslosenquoten verzerren zusätzlich das Bild, das die Gesellschaft von sich hat. Ulrich Schneider beschreibt das anschaulich wie folgt: „Aber was sagt der Statistiker, wenn jemand mit dem Kopf im Kühlschrank und mit den Füßen im Ofen liegt? Im Durchschnitt warm. Hinter diesen [positiven wirtschaftlichen] Zahlen steht eine tiefe Spaltung. Es gibt den größten Niedriglohnsektor, den wir jemals in diesem Land hatten, und 16% von Armut betroffene Bürger – ein Höchstwert seit der Wiedervereinigung. Immer mehr Menschen arbeiten Vollzeit und kommen finanziell trotzdem nicht über die Runden. Sie gehen zur Tafel, stocken mit Hartz-IV und anderen Leistungen wie Wohngeld auf. Das ist auch eine Realität hinter den im Durchschnitt guten wirtschaftlichen Zahlen. Das ist die Realität, mit der wir es in Deutschland zu tun haben. Im Durchschnitt warm.“ (S.115)
Die sehr unterschiedlichen Gesprächspartner Brühls vertreten zum Teil gegensätzliche Positionen. Für manche sind die Tafeln Teil eines historischen Kontinuums. So meint Beatrice Moreno „Auf der anderen Seite tun Sie etwas, das es schon immer gab. Es gab schon im Mittelalter Armenspeisungen, auch in anderen Kulturen.“ Wenn es etwas immer schon gab, kann und muss man vielleicht nichts zwingend ändern. Andere Gesprächspartner hingegen halten das System, wie es ist, für grundsätzlich falsch. So sagt Gerhard Trabert kämpferisch: „Wir wollen uns abschaffen! Das ist unser Ziel. Aber bisher sind wir mit unserer Arbeit –ähnlich wie die Tafel – ein stabilisierender Faktor für dieses Unrechtssystem. Wir übernehmen Aufgaben des Staates und decken damit die Problematik zu. Umso stärker müssen wir immer wieder betonen, dass es nicht in Ordnung ist, dass es uns überhaupt gibt. Ich finde es nicht okay, dass es eine medizinische Ambulanz für Wohnungslose und Nichtkrankenversicherte gibt.“ (S.188) Trabert kritisiert auch die NAK, die Nationale Armutskonferenz (Die NAK ist ein Bündnis von bundesweit tätigen Wohlfahrtsorganisationen.) und die Kirchen, die sich seiner Meinung nach öffentlich viel deutlicher zum Thema Armut äußern müssten. Er glaubt, dass die finanzielle Abhängigkeit von Zuwendungen des Staates viele Organisationen davon abhält, eben diesen Staat bzw. dessen Politik grundlegend zu kritisieren.
Interessant ist, dass Brühl selbst eine solche Kritik umgeht, indem er die Aufgabe der Tafel neu definiert. So schreibt er in seinem Buch: „Die Tafeln sind nicht gegründet worden, um Armut zu bekämpfen. Die Folgen von Armut zu lindern war vielmehr ein Resultat unserer Arbeit. Vor allem geht es darum, Lebensmittel vor der Müllkippe zu bewahren und Ressourcen nicht zu verschwenden.“ (S. 113) Damit verschiebt er den Schwerpunkt der Arbeit der Tafeln und entzieht sich ein stückweit der Kritik, dass die Tafeln dazu beitragen, unhaltbare gesellschaftliche Zustände zu verfestigen. Dieses Ausweichmanöver mag verständlich sein, trägt aber dazu bei, von dem eigentlichen Problem der wachsenden Armut abzulenken und die Aufmerksamkeit auf das wesentlich populärere Thema der Lebensmittelverschwendung zu verlagern.
Dass Lebensmittelverschwendung und der umweltverträgliche Konsum aber eher ein Problem der Wohlhabenden ist, lässt sich an einer Bemerkung Hannes Jaenickes und Brühls spontaner Reaktion darauf deutlich ablesen.„Wenn man als Verbraucher seinen Geldbeutel als Waffe versteht und begreift, dass jeder Kassenbon ein Wahlzettel ist, kann man durchaus etwas bewirken.“ [...] „Wenn man es sich leisten kann, denke ich und sehe viele Tafel-Kundinnen vor meinem inneren Auge.“ (S.220)
Während Brühls Gespräch mit der Politikerin Barbara Hendricks wird auch die Achillesferse der Tafeln berührt. (S.166) Da die Tafeln auf Spenden beruhen, ist die Menge und Qualität der ausgegebenen Ware stark von der generellen wirtschaftlichen Situation der Region abhängig. In Mecklenburg-Vorpommern, wo es in Relation zur Bevölkerung besonders viele Tafelnutzer gibt, reichen die lokalen Spenden bei bestimmten Waren oft nicht aus und diese Waren müssen aus anderen Regionen wie z.B. Westfalen geholt werden.
In Volle Tonne, leere Teller kommt auch eine Tafelnutzerin zu Wort. Henriette Egler hat sich damit einen Namen gemacht, dass sie im Internet Rezepte teilt, die mit Zutaten von der Tafel gemacht sind. Egler ist insofern ungewöhnlich, als dass sie mit der Tatsache, Tafelnutzerin zu sein, offensiv umgeht. Dabei ist Egler sich durchaus bewusst, dass es eine große Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Sicht auf die Tafel und deren Nutzer gibt. „Die Tafeln an sich werden positiv gesehen, aber viele Menschen haben ein negatives Bild im Kopf, wenn sie an die Tafel-Kunden denken. Da ist dann gleich das Klischee vom asozialen Menschen in den Köpfen, der sein Leben nicht im Griff hat.“ (S.87)
Stefan Selke hat sich in seinem Buch „Schamland“ intensiv mit den Gefühlen der Tafelnutzer auseinandergesetzt. Er ist der Meinung, dass sich die meisten – anders als Egler – schwer tun, das negative öffentliche Klischee der Tafelnutzer abzustreifen. Er zitiert in seinem Buch viele Tafelnutzer, um zu zeigen, dass sie sich schämen zur Tafel gehen zu müssen. Anscheinend sind sie aber nicht die einzigen, die Scham empfinden. Laut Brühl tun es auch manche ehrenamtlichen Helfer. „Es gibt sie, die Scham derer, die zu uns kommen und es gibt nach einiger Zeit auch eine gewisse Scham von denen, die helfen – weil ihnen bewusster wird, dass sie nach ihrer Tätigkeit in ein privilegierteres Leben gehen können und das nicht unbedingt ihr eigener Verdienst ist.“ (S.193) Die Tafeln scheinen oft die ideale Lösung gegen Armut und Lebensmittelverschwendung. Es stellt sich aber die Frage, wie gut ein System ist, das angeblich allen nützt, wenn sich so viele, die damit zu tun haben, auf die eine oder andere Art schämen.
Letztendlich geht es bei Diskussionen über die Tafel immer wieder darum, welche Prioritäten unsere Gesellschaft haben soll. Ist das Wichtigste das niemals endend dürfende Wirtschaftswachstum? Oder eine gerechtere Gesellschaft? Ulrich Schneider meint dazu: „Es geht um Würde, Haltung und Moral. Wir müssen unseren inneren Kompass wiederfinden. Den haben wir an Betriebswissenschaftler abgegeben. Aber wir brauchen diesen Wertekompass. Er wird uns zeigen, wohin wir uns bewegen müssen.“ (S.123)