Die Drei Tore
Vor nicht allzu langer Zeit lebte ein kleines Kamel zufrieden bei seiner großen Kamelfamilie.
Als die Mutter ein neues Kamelbaby bekam, sagte der Vater zu dem kleinen Kamel: „Nun, wo das Kleine da ist, haben wir nicht genug zu essen für alle. Du bist das Älteste und nun groß genug, um dir einen Platz woanders zu suchen.“ Das kleine Kamel war zuerst sehr erschrocken, aber dann freute es sich sehr darauf, auf Reise zu gehen und etwas von der Welt zu sehen.
Eine Woche später packte die Mutter dem kleinen Kamel etwas Proviant ein und gab ihm zwei volle Wassersäcke. Das kleine Kamel verabschiedete sich von seiner Familie und der Vater begleitete es noch ein Stück weit in die Wüste. Bevor er nach Hause zurückging, zeigte der Vater dem kleinen Kamel noch, in welche Richtung es weitergehen sollte und wünschte ihm viel Glück.
Das kleine Kamel war noch nie allein in der Wüste gewesen. Nachts wenn es sich einsam fühlte, schaute es in den Sternenhimmel und dachte an seine Familie bis es einschlief. Obwohl das kleine Kamel sparsam mit seinem Proviant umging, hatte es nach einer Weile nichts mehr zu essen. Das Laufen in der Hitze strengte es mehr und mehr an und irgendwann war es so erschöpft, das es sich hinlegen musste.
Als es am nächsten Morgen aufwachte, sah das kleine Kamel eine Karawane in seine Richtung ziehen. Kaum war das erste Kamel der Karawane auf seiner Höhe angekommen, hielt es an und fragte,„Wie geht es dir? Bist du krank?“
„Nein, nein. Aber ich bin etwas müde und außerdem ist mir der Proviant ausgegangen.“
Daraufhin hielt das erste Kamel die Karawane an und bat die anderen, dem kleinen Kamel etwas abzugeben. Nachdem sie seine Vorräte wieder aufgefüllt hatten und das kleine Kamel etwas gegessen hatte, verabschiedeten sich die Kamele und die Karawane zog weiter.
Gestärkt lief das kleine Kamel weiter in Richtung der Oase, von der ihm die anderen Kamele erzählt hatten. Da es nicht genau wusste wie weit der Weg war, ging das kleine Kamel jetzt sehr vorsichtig mit seinen Vorräten um und ass und trank immer nur ein kleines Bisschen. Wenn es merkte, dass es müde wurde, legte es sich hin und versuchte ein wenig zu schlafen. Trotzdem war sein Proviant nach einiger Zeit wieder aufgebraucht. Das kleine Kamel hatte aber Glück und traf zur rechten Zeit einen Fuchs, der ihm eine Wasserstelle auf dem Weg zeigte. Als es an der Wasserstelle ankam, standen da schon viele andere Tiere und tranken. Neugierig hörte das kleine Kamel ihren Gesprächen zu.
In seiner unmittelbaren Nähe stritt sich eine Sandkatze laut mit einem Wüstenigel, welche die schönste Oase der Wüste sei. Nach einer Weile mischte sich ein Schakal in ihren Streit ein und erzählte von einer Stadt, in der er vor Kurzem gewesen war. „Diese Stadt ist viel, viel schöner als die schönste Oase,“ schwärmte er. Die anderen glaubten ihm aber nicht, denn sie hatten von dieser Stadt noch nie gehört.
Als es Abend wurde, beschloss das kleine Kamel nicht weiterzugehen, sondern in der Nähe der Wasserstelle zu schlafen. Bei der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz sah es eine Schlange, die sich zur Hälfte unter einer Tamariske eingegraben hatte.
Als sich das kleine Kamel unweit von der Schlange hinlegte, hob diese ihren Kopf, gähnte laut und fragte dann: „Woher kommst du denn? Dich habe ich noch nie hier gesehen. Bist du auf Reise?“
„Ich suche mir ein neues Zuhause und weiß noch gar nicht genau, wo ich am besten hingehen soll.“
Die Schlange sah das kleine Kamel einen Moment unverwandt an und sagte dann, „Ich glaube, du solltest zu der Stadt gehen, von der ein Schakal heute viel erzählt hat. Ich denke, es würde dir da gefallen. Von hier brauchst du ungefähr vier Tage.“ Dann kringelte sie sich zusammen und schloss wieder die Augen.
Das kleine Kamel war durch die Erzählung des Schakals ohnehin neugierig auf die Stadt geworden und fühlte sich in seinem Plan, dorthin zu gehen bestärkt. Bevor es einschlief, nahm es sich fest vor, am nächsten Morgen die Schlange zu fragen, in welcher Richtung die Stadt lag.
Am Morgen war die Schlange aber verschwunden. Etwas enttäuscht füllte das kleine Kamel seine Wassersäcke an der Wasserstelle auf und traf dort auf ein Dromedar, das gerade seine Sachen packte. Das Dromedar besaß ein auffallend helles Fell, trug ein pinkfarbenes, mit Goldfäden durchsetztes, Käppi auf dem Kopf und eine dazu passende Decke auf dem Rücken.
Ohne es zu merken, musste das kleine Kamel das Dromedar angestarrt haben, denn nach einer Weile fragte das Dromedar sichtlich irritiert, „Was guckst du so? Hast du noch nie ein Dromedar gesehen?“
„Nein. Doch! -- Ich meine, noch nicht sehr viele,“ sagte das kleine Kamel verlegen. „Entschuldige, wenn ich dich angestarrt habe. Ich war in Gedanken, weil ich gern in die Stadt gehen würde, von der ein Schakal gestern Abend hier erzählt hat. Leider weiß ich nicht, wo diese Stadt liegt und in welche Richtung ich jetzt gehen soll.“
Das Dromedar schwieg einen Moment und sagte dann, „Ich habe den Schakal von der Stadt reden hören und will da selber auch hin.“
Etwas zögerlich fragte das kleine Kamel daraufhin, ob sie zusammen dorthin gehen könnten. „Ich bin schon so lange unterwegs und möchte mich nicht verlaufen.“
Das Dromedar lachte. „Wer will das schon?“ Dann schaute es das kleine Kamel kurz an und sagte, „Meinetwegen können wir auch zusammen hingehen. Aber dann lass uns gleich loslaufen. Der Weg ist noch weit.“
Am Anfang liefen die beiden schweigend nebeneinander her. Nachdem sie eine Weile unterwegs waren, fing das Dromedar an zu erzählen, wo es schon überall gewesen war. Das kleine Kamel war beeindruckt, fand das Dromedar aber auch ein bisschen eingebildet. Die anderen Tiere, denen die beiden unterwegs begegneten, schienen das kleine Kamel meist gar nicht zu bemerken, weil sie so damit beschäftigt waren, das ungewöhnlich aussehende Dromedar zu beäugen. Das Dromedar schien dies entweder nicht zu merken oder gewohnt zu sein. Wenn ein Tier es gar zu auffällig ansah, sprach das Dromedar es häufig an. Manchmal ergaben sich daraus längere Gespräche und die anderen Tiere erzählten, wo sie hin wollten und warum, oder sie wiesen das Dromedar auf interessante Dinge hin, die sie unterwegs gesehen hatten.
Nach einer Weile begann das kleine Kamel, das Dromedar zu bewundern und auch zu beneiden. Als es allein unterwegs gewesen war, hatte es kaum andere Tiere kennengelernt.
Einmal allerdings hatte das Dromedar Pech. Es hatte einen Skorpion angesprochen, der ihnen entgegen gekommen war. Das Dromedar war schlechter Laune gewesen, weil es so schwitzte, dass ihm sein Käppi ständig vor die Augen rutschte. Außerdem hatte der Wüstenwind mehrmals seine Rückendecke weggeblasen und sie hatten hinterher rennen müssen, um die Decke wieder zu bekommen. Ohne den Skorpion zuerst zu begrüßen, hatte das Dromedar ihn beim Vorbeigehen laut nach der nächsten Wasserstelle gefragt. Woraufhin der Skorpion entrüstet stehen blieb und meinte, er habe nicht die geringste Lust Fragen zu beantworten, wenn er so unhöflich angesprochen werde. Nun regte sich das Dromedar seinerseits gleich sehr auf; und es entstand in kürzester Zeit ein richtiger Streit. Es ging so schnell, dass das kleine Kamel nicht dazu kam, einzugreifen und zu beschwichtigen.
Als der Skorpion zu dem Dromedar „Du blödes Trampeltier“ sagte, warf das Dromedar aufgebracht mit seiner Decke nach ihm. Das hätte es besser nicht getan, denn da stellte der Skorpion seinen Stachel auf und stach das Dromedar ins linke Vorderbein. Das Dromedar schrie laut auf und schnappte nach dem Skorpion, aber der war schon weggelaufen.
Die Stichstelle am Vorderbein schwoll sofort stark an und tat dem Dromedar sehr weh. Das kleine Kamel kühlte die Wunde zuerst mit einem Rest Wasser und verband sie anschließend mit einem Taschentuch. Weil das Dromedar nun nur noch humpeln konnte, kamen sie sehr langsam vorwärts und dem Dromedar ging es zusehends schlechter.
Das kleine Kamel entschied, Halt zu machen. Das Dromedar widersprach erst nicht, aber nach einer Weile fing es an, heftig auf das kleine Kamel einzureden. Das kleine Kamel begriff aber nicht, worum es überhaupt ging, denn das Dromedar sprach immer undeutlicher und wurde immer aufgeregter je weniger das kleine Kamel es verstand. Schließlich sprang das Dromedar auf und lief fest mit dem Kopf schüttelnd im Kreis. Das kleine Kamel versuchte das Dromedar zu beruhigen, aber das lief so lange im Kreis bis es völlig außer Atem war und so verschwitzt war, dass es anhalten musste. Da fing das kleine Kamel an, sich zu fürchten, weil es nicht mehr weiter wusste.
Als das Dromedar wieder anfing, wie von Sinnen im Kreis zu rennen, begann das kleine Kamel, ihm ein Lied vorzusingen. Das kleine Kamel sang erst etwas zaghaft und dann, als das Dromedar verblüfft innehielt und aufhörte den Kopf zu schütteln, immer kräftiger. Das kleine Kamel hatte mit seinen Geschwistern zuhause sehr gern gesungen, aber es hatte sich nie alleine singen gehört und war selbst überrascht wie schön seine Stimme klang.
Als das Lied zu Ende war, wollte das Dromedar gleich wieder loslaufen. Das kleine Kamel fuhr deshalb schnell fort zu singen und sang ohne weitere Unterbrechung alle Lieder durch, die es kannte. Nach dem zweiten Lied kam das Dromedar langsam näher, legte sich vor das kleine Kamel und hörte ihm bis zum Schluss aufmerksam zu.
Als das kleine Kamel sein letztes Lied beendet hatte, hob das Dromedar den Kopf und sagte leise,
„Danke. Deine Stimme hat mich beruhigt. Ich konnte plötzlich alles nur noch verschwommen sehen und auch nicht mehr vernünftig sprechen. Das hat mir große Angst gemacht.“
„Das kam wahrscheinlich von dem Skorpiongift. Wie geht es deinem Bein?“
„Es tut nicht mehr so weh, aber laufen kann ich sicher noch nicht.“
„Dann lass uns jetzt schlafen. Morgen versuchen wir, eine Wasserstelle zu finden.“
Das Dromedar nickte müde.
Das kleine Kamel legte sich daneben und deckte sie beide mit der Decke des Dromedars zu. So aneinandergeschmiegt schliefen sie ein.
Am folgenden Morgen konnte das Dromedar besser laufen und sie gingen gleich los, um eine Wasserstelle zu suchen. Unterwegs trafen sie auf eine Antilope, die ihnen den Weg zum nächsten Brunnen beschrieb. Der Weg dorthin war zwar nicht weit, aber die beiden kamen nur sehr langsam vorwärts. Um das Dromedar ein wenig von seinen Schmerzen abzulenken, brachte das kleine Kamel ihm zwei Lieder bei, die sie unterwegs zusammen sangen. Danach gingen sie, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, eine Weile schweigend nebeneinander her. Plötzlich fing das Dromedar an, ganz viel zu erzählen und erzählte dem kleinen Kamel Dinge, die es sonst noch keinem Tier erzählt hatte. Das Dromedar hatte wirklich schon viel erlebt und nicht alles davon war schön gewesen. Das kleine Kamel hörte aufmerksam zu und fand das Dromedar nun gar nicht mehr eingebildet. Nachdem das Dromedar fertig erzählte hatte, fragte es neugierig, warum sein Freund eigentlich in die Stadt wolle. Erfreut erzählte das kleine Kamel ihm von seiner Familie und warum es die Reise begonnen hatte.
Am Abend erreichten sie einen Brunnen und füllten ihre Wassersäcke auf. Müde suchten sie sich einen Schlafplatz, und es dauerte nicht lange, da waren beide fest eingeschlafen. Am nächsten Tag machte das kleine Kamel einen neuen Verband um das Vorderbein des Dromedars. Die Wunde sah nun wesentlich besser aus, war aber noch leicht entzündet.
Das Dromedar fühlte sich schwach und wollte gern einen Tag pausieren. „Du mußt aber nicht bei mir bleiben und kannst auch schon weitergehen. Ich komme jetzt auch alleine klar.“
„Ich bleibe so lange bei dir, bis du wieder gut laufen kannst,“ antwortete das kleine Kamel bestimmt. „Erst dann können wir getrennter Wege gehen.“
Das Dromedar widersprach nicht und so verbrachten sie den größten Teil des Tages dösend unter einer Palme. Ab und zu liefen Tiere vorbei, die auch zum Brunnen wollten oder von dort kamen. Manchmal hielt eines der Tiere an und die drei unterhielten sich ein bisschen. Das kleine Kamel stellte erstaunt fest, dass es nicht mehr so schüchtern war und sich jetzt viel lieber mit fremden Tieren unterhielt als früher. Auch schienen es die anderen Tiere mehr zu beachten und sprachen nicht immer nur das Dromedar an.
Die restliche Reise zur Stadt dauerte viel länger als das kleine Kamel gedacht hatte, obwohl das Dromedar inzwischen wieder normal gehen konnte. Aber sie kamen trotzdem nicht so schnell voran. wie das kleine Kamel erwartet hatte. Unterwegs sie lernten eine alte Schildkröte kennen, die ihnen unbedingt eine nahegelegene Oase zeigen wollte und sie dorthin mitnahm. In der Oase blieben sie länger als geplant, weil die Schildkröte so viele spannende Geschichten zu erzählen hatte. Als die Schildkröte das kleine Kamel am letzten Abend in der Oase singen hörte, riet sie ihm, bei einem berühmten Musiker in der Stadt, noch mehr Lieder zu lernen. Da die Schildkröte wusste, dass der Musiker nicht gern Besuch bekam, schrieb sie dem kleinen Kamel eine Empfehlung, damit der Musiker es nicht abweisen würde, wenn es zu ihm kam. Das kleine Kamel freute sich sehr und konnte es nun kaum abwarten, endlich in der Stadt anzukommen.
Es sprach jetzt unterwegs die ganze Zeit davon, was es alles machen würde, wenn es endlich in der Stadt angekommen sei. Nach einer Weile ging das Gerede dem Dromedar so auf den Nerv, dass es immer schneller lief. Die beiden fingen an zu streiten, und das Dromedar sagte am Abend als sie sich schlafen legten, dass es den Rest des Weges nun allein gehen wolle.
„Die Stadt ist nicht mehr weit und du findest den Weg dorthin jetzt auch ohne mich. Spätestens in der Stadt hätten sich unsere Wege ja ohnehin getrennt, denn ich werde dort nicht bleiben, sondern nach ein paar Tagen weiterziehen.“
„Wie du meinst,“ antwortete das kleine Kamel und machte ein gleichgültiges Gesicht.
„Dann ist das beschlossene Sache,“ meinte das Dromedar und drehte dem kleinen Kamel den Rücken zu. Als das kleine Kamel am nächsten Morgen aufwachte, war das Dromedar schon weg.
Traurig machte sich das kleine Kamel auf den Weg. Es ging so schnell wie es konnte, aber das Dromedar war nirgendwo mehr zu sehen. Als das kleine Kamel endlich die Stadt in der Ferne auftauchen sah, dämmerte es schon. Zu seiner Verwunderung war die Stadt vollständig von einer großen Mauer umgeben. Obwohl das kleine Kamel zügig ging, erreichte es die Stadt erst in den frühen Morgenstunden. Dort angekommen trank es sein restliches Wasser, legte sich erschöpft neben das geschlossene Stadttor und schlief ein.
Als das kleine Kamel am folgenden Morgen aufwachte, war das Tor schon auf und es herrschte reger Verkehr. Das kleine Kamel lief freudig auf das geöffnete Tor zu, wurde aber zu seiner Überraschung von den beiden Wächtern, die links und rechts standen, aufgehalten.
„Es ist für Tiere verboten, durch dieses Tor zu gehen,“ sagte der eine Wächter barsch. Der andere Wächter bemerkte wie die Augen des kleinen Kamels verdächtig zu glänzen begannen und er sagte schnell, „Es gibt aber noch zwei andere Stadttore.“
Mit den Tränen kämpfend sah das kleine Kamel dem Treiben vor dem Tor so lange zu, bis es sich wieder gefasst hatte und lief dann an der Stadtmauer entlang bis zum nächsten Tor. An diesem Tor gab es ein großes Schild, auf dem stand, dass das Tor jeden Tag nur vormittags drei Stunden geöffnet sei. Wütend klopfte das Kamel an die Tür neben dem Tor. Nach einer Weile öffnete ein Wächter. Das kleine Kamel erzählte ihm seine Geschichte und bat um Eintritt.
Der Wächter bedauerte, dass es zu spät gekommen war, verweigerte ihm aber den Zutritt in die Stadt, da er sonst bestraft würde. „Was ich aber tun kann, ist, dir etwas zum Essen und zum Trinken zu bringen,“ sagte er und schloss dann die Tür.
Das Kamel wartete so lange, bis es müde wurde und einschlief. Als es wieder aufwachte, stand ein Tablett mit Wasser, Obst und süßem Gebäck vor ihm. Erfreut aß das Kamel alles auf und wartete dann ungeduldig auf den nächsten Morgen.
Als das zweite Tor aufgemacht wurde, standen schon sehr viele Leute davor und das Kamel musste lange warten bis es an der Reihe war. Entsetzt stellte es fest, dass das zweite Tor viel kleiner war als das erste und dass es dort gar nicht hindurch passte.
Ängstlich fragte das kleine Kamel einen der beiden Torwächter nach dem dritten Tor. „Ist das auch so klein? Dürfen da auch keine Tiere hindurch?“
„Ich glaube nicht, aber genau weiß ich es nicht,“ sagte der Wächter und machte das Tor zu.
Bekümmert ging das kleine Kamel langsam an der Stadtmauer entlang bis zum dritten Stadttor. Ohne Überraschung stellte es fest, dass das Tor schon geschlossen war und klopfte an die Tür daneben. Als ihm der Wächter öffnete, bat es müde um etwas zum Essen und zum Trinken. Der Wächter nickte und schloss die Tür wieder. Auf eine lange Wartezeit gefasst, schlief das kleine Kamel gleich ein und erwachte erst als sich ein köstlicher Essensgeruch verbreitete. Dieser Wächter hatte ihm ein Tablett mit verschiedenen Speisen und Getränken hingestellt. Sehr erfreut vergaß das kleine Kamel seinen Kummer und aß solange, bis es vollkommen satt war.
Am folgenden Morgen stand das kleine Kamel früh auf und stellte sich gleich vor das Tor. Um sieben Uhr hörte es wie jemand den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Dann traten zwei Wächter aus der Seitentür und schoben mit vereinten Kräften das Tor auf. Staunend kam das kleine Kamel näher und blickte durch das Tor. Es sah große braune Lehmhäuser, die mit kunstvollen weißen Mustern bemalt waren, Männer in langen Gewändern, die einen Dolch trugen – und dann versperrte ein Wächter seine Sicht.
Er blickte das kleine Kamel prüfend an.„Du darfst hier nicht rein,“ sagte er.
„Warum nicht?“ fragte das kleine Kamel kampflustig.
„Du bist noch zu klein.“
„Zu klein?“ wiederholte das Kamel ungläubig und der Wächter nickte. „Aber für das andere Tor war ich doch zu groß.“
Der Wächter zuckte gleichgültig die Schultern. „Das passiert manchmal. Aber du wächst ja noch. Komm einfach wieder, wenn du groß genug bist.“ Er sagte dem kleinen Kamel genau, wie viel es noch zu wachsen hatte und wandte sich dann den anderen Wartenden zu.
Das kleine Kamel brach in Tränen aus. Laut schluchzend trat es zur Seite damit die, die hinter ihm standen, besser durch das Tor passieren konnten.
Ein Huhn, das aus der Stadt kam, sah das kleine Kamel und ging zu ihm herüber. Das Huhn fragte nicht, warum es so weinte, und wartete einfach bis das kleine Kamel sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Dann erkundigte es sich, ob das kleine Kamel Hunger oder Durst habe.
„Ich brauche nichts,“ sagte das kleine Kamel missmutig. „Ich wollte in die Stadt hinein und jetzt darf ich wieder nicht. Erst war ich zu groß, dann zu klein.“
Das Huhn nickte und sagte, „Das passiert vielen.“
Das kleine Kamel sah sich um, aber außer ihnen stand jetzt niemand mehr vor der Stadtmauer.
Das Huhn lachte gackernd. „Du glaubst mir nicht!“ Dann trippelte es langsam davon und das kleine Kamel sah ihm verärgert hinterher.
Während des Tages wurde es immer heißerund das kleine Kamel legte sich in den Schatten eines Baums, um zu überlegen, was es nun tun sollte. Gegen Abend bekam es Hunger, klopfte wieder an die Seitentür und bat den Wächter erneut um Essen und Trinken.
Der Wächter erkannte das kleine Kamel wieder und brachte ihm kurze Zeit später ein gut bestücktes Tablett. „Du solltest jeden Abend zu einem anderen Tor gehen, um dort zu essen. Du wirst immer etwas bekommen. So bald du groß genug bist, lasse ich dich in die Stadt.“
„Aber wie lange wird das dauern?“
Der Wächter zuckte mit den Schultern. „Das kann ich dir nicht sagen.“
„Und warum darf das Huhn, das so viel kleiner ist als ich, durch das Tor?“ fragte das kleine Kamel aufmüpfig.
„Für Hühner gelten andere Regeln,“ antwortete der Wächter und verschwand hinter der Tür.
Nachdem der Wächter gegangen war, begann das Kamel, langsam zu essen und dachte nach. Es entschloss sich zu bleiben und es so zu machen wie der Wächter es vorgeschlagen hatte.
Am nächsten Abend ging es zum ersten Tor, am darauffolgenden zum zweiten und dann zum dritten, um um Essen zu bitten. Falls die anderen Wächter sich wunderten, sagten sie jedoch nichts und brachten ihm immer ausreichende, wenn auch nicht mehr so üppige Mahlzeiten wie am Anfang.
Wann immer sich ihm Gelegenheit dazu bot, schaute das kleine Kamel neugierig durch die Tore. Es konnte sich gar nicht satt sehen an den hohen, braunen Häusern mit den symmetrischen
weißen Mustern und Rundbögen. Manchmal standen große Palmen vor einem Haus oder über und über blühende Bougainvilleas. Wenn das kleine Kamel durch das zweite Tor schaute, konnte es die goldene Kuppel einer Moschee und mehrere Minarette sehen. Unweit von der Moschee musste es einen Basar geben. Oft konnte das kleine Kamel die Händler rufen und ihre Ware anpreisen hören. Ab und zu sprach es Leute an, die aus der Stadt kamen und bat sie, ihm etwas über die Stadt zu erzählen. Je mehr das kleine Kamel von der Stadt sah und hörte, desto besser gefiel sie ihm.
Aber das kleine Kamel wuchs nur langsam. Mit der Zeit freundete es sich mit anderen Tieren an, die auch außerhalb der Stadtmauern lebten. Manche mochte es sehr gern und nach einer Weile achtete das kleine Kamel nicht mehr so genau darauf, wie viel es wuchs. Wenn es durch die Tore schaute, hielt es auch immer mal wieder Ausschau nach dem Dromedar. Am Anfang meinte es, ein- oder zweimal ein pinkes Käppi erspäht zu haben, aber dann war es gleich in der Menge verschwunden. Inzwischen war das Dromedar wohl längst weiter gezogen.
Die besten Freunde des kleinen Kamels waren das Huhn, das es einmal angesprochen hatte, und eine alte Katze, die schon lange vor der Stadt wohnte.
Einmal als alle drei vor dem dritten Stadttor standen und den Leuten zusahen, die in beide Richtungen durch das Tor passierten, kam ein Mann auf sie zu und fuhr sie an: „Was steht Ihr hier mitten im Weg? Immer lungert Ihr hier rum und tut nichts außer dumm glotzen. Verschwindet endlich, Ihr faules Pack!“
Das Huhn flatterte aufgeregt davon, aber die Katze fauchte den Mann an.
Da schimpfte der Mann erst richtig los, woraufhin die Katze ihre Krallen zeigte und ihm die Zunge herausstreckte.
Besorgt trat das kleine Kamel zwischen die beiden. „Aufhören!“
Die beiden sahen das kleine Kamel überrascht an.
Das kleine Kamel sagte zu dem Mann, „Wir stehen hier niemandem im Weg und sind auch nicht faul. Überhaupt gibt es keinen Grund uns zu beschimpfen.“
Die Katze nickte und lächelte zufrieden, aber der Mann hob Hand.
„Halt!“ schrie das kleine Kamel, „Ich bin noch nicht fertig.“ Es wandte sich an die Katze und meinte, „Aber du hast dich auch dumm benommen.“
Daraufhin war die Katze so böse, dass ihre Schnurrbarthaare zitterten.
Der Mann schaute von einem zum anderen und fing plötzlich an zu lachen. „Ich glaube, ich bin es, der sich dumm benommen hat,“ sagte er etwas verlegen als er wieder ernst geworden war. „Wollt Ihr eine von meinen Datteln? Ich war eben sehr schlecht gelaunt, weil ich heute kaum welche verkauft habe und noch so viele übrig sind.“ Er reichte den beiden eine Handvoll Datteln und ging dann schnell weiter.
„Puh,“ sagte das kleine Kamel, „das ist ja noch mal gut ausgegangen.“
Als das Huhn zurückkam, erzählten die beiden was passiert war, nachdem das Huhn weggeflattert war und teilten sich mit ihm die Datteln. Obwohl das kleine Kamel über den guten Ausgang des Streits erleichtert war, war es an dem Abend auch ein wenig traurig. Der Zwischenfall hatte es nämlich an den Streit des Dromedars mit dem Skorpion erinnert.
Wie schon so oft zuvor, schaute das Kamel in dieser Nacht in den Sternenhimmel, bevor es einschlief. Plötzlich sah es eine Sternschnuppe und wollte sich gleich wünschen, dass es am nächsten Tag durch das Tor in die Stadt gehen könnte. Aber dann hielt es inne, weil es merkte, dass das gar nicht mehr sein größter Wunsch war. Das Kamel schloss die Augen und wünschte sich mit aller Kraft das, was es wirklich wollte. Es musste länger so gestanden haben als es gemerkt hatte, denn als es die Augen wieder öffnete, fing es schon an zu dämmern.
„Hier bist du also,“ flüsterte jemand neben ihm.
Das Kamel schaute sich um, sah das weiße Dromedar und fing vor Freude an, leise zu weinen. „Ich dachte schon, ich sehe dich nicht wieder.“
„Das dachte ich auch und deshalb habe ich vor einer Weile angefangen, nach dir zu suchen. Als ich ohne dich weiter gegangen bin, war es irgendwie anders als vorher, wenn ich ohne einen Freund weitergezogen bin. Denn immer wenn ich etwas Neues gesehen oder erlebt habe, wollte ich dir davon erzählen. Wenn ich mich irgendwo sehr wohl gefühlt habe, habe ich mir plötzlich gewünscht, du wärest auch da. Oft wollte ich einfach gern wissen, was du von dieser oder jener Sache denkst. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich sogar lieber mit dir streiten würde, als dich gar nicht zu sehen. Da wusste ich, dass ich dich suchen muss.“
Das Kamel wischte sich eine Träne weg. „Seit ich dich kenne, mag ich andere Tiere viel lieber und habe viel mehr Lust sie kennenzulernen als früher.“
Das Dromedar lächelte. „Möchtest du jetzt mit mir in die Stadt gehen?“
Ohne nachzudenken, nickte das Kamel, nahm alle seine Sachen und dann gingen sie gemeinsam durch das dritte Tor, ohne von den Wächtern aufgehalten zu werden.
Copyright 2015 by Sylvia Bolton
Als die Mutter ein neues Kamelbaby bekam, sagte der Vater zu dem kleinen Kamel: „Nun, wo das Kleine da ist, haben wir nicht genug zu essen für alle. Du bist das Älteste und nun groß genug, um dir einen Platz woanders zu suchen.“ Das kleine Kamel war zuerst sehr erschrocken, aber dann freute es sich sehr darauf, auf Reise zu gehen und etwas von der Welt zu sehen.
Eine Woche später packte die Mutter dem kleinen Kamel etwas Proviant ein und gab ihm zwei volle Wassersäcke. Das kleine Kamel verabschiedete sich von seiner Familie und der Vater begleitete es noch ein Stück weit in die Wüste. Bevor er nach Hause zurückging, zeigte der Vater dem kleinen Kamel noch, in welche Richtung es weitergehen sollte und wünschte ihm viel Glück.
Das kleine Kamel war noch nie allein in der Wüste gewesen. Nachts wenn es sich einsam fühlte, schaute es in den Sternenhimmel und dachte an seine Familie bis es einschlief. Obwohl das kleine Kamel sparsam mit seinem Proviant umging, hatte es nach einer Weile nichts mehr zu essen. Das Laufen in der Hitze strengte es mehr und mehr an und irgendwann war es so erschöpft, das es sich hinlegen musste.
Als es am nächsten Morgen aufwachte, sah das kleine Kamel eine Karawane in seine Richtung ziehen. Kaum war das erste Kamel der Karawane auf seiner Höhe angekommen, hielt es an und fragte,„Wie geht es dir? Bist du krank?“
„Nein, nein. Aber ich bin etwas müde und außerdem ist mir der Proviant ausgegangen.“
Daraufhin hielt das erste Kamel die Karawane an und bat die anderen, dem kleinen Kamel etwas abzugeben. Nachdem sie seine Vorräte wieder aufgefüllt hatten und das kleine Kamel etwas gegessen hatte, verabschiedeten sich die Kamele und die Karawane zog weiter.
Gestärkt lief das kleine Kamel weiter in Richtung der Oase, von der ihm die anderen Kamele erzählt hatten. Da es nicht genau wusste wie weit der Weg war, ging das kleine Kamel jetzt sehr vorsichtig mit seinen Vorräten um und ass und trank immer nur ein kleines Bisschen. Wenn es merkte, dass es müde wurde, legte es sich hin und versuchte ein wenig zu schlafen. Trotzdem war sein Proviant nach einiger Zeit wieder aufgebraucht. Das kleine Kamel hatte aber Glück und traf zur rechten Zeit einen Fuchs, der ihm eine Wasserstelle auf dem Weg zeigte. Als es an der Wasserstelle ankam, standen da schon viele andere Tiere und tranken. Neugierig hörte das kleine Kamel ihren Gesprächen zu.
In seiner unmittelbaren Nähe stritt sich eine Sandkatze laut mit einem Wüstenigel, welche die schönste Oase der Wüste sei. Nach einer Weile mischte sich ein Schakal in ihren Streit ein und erzählte von einer Stadt, in der er vor Kurzem gewesen war. „Diese Stadt ist viel, viel schöner als die schönste Oase,“ schwärmte er. Die anderen glaubten ihm aber nicht, denn sie hatten von dieser Stadt noch nie gehört.
Als es Abend wurde, beschloss das kleine Kamel nicht weiterzugehen, sondern in der Nähe der Wasserstelle zu schlafen. Bei der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz sah es eine Schlange, die sich zur Hälfte unter einer Tamariske eingegraben hatte.
Als sich das kleine Kamel unweit von der Schlange hinlegte, hob diese ihren Kopf, gähnte laut und fragte dann: „Woher kommst du denn? Dich habe ich noch nie hier gesehen. Bist du auf Reise?“
„Ich suche mir ein neues Zuhause und weiß noch gar nicht genau, wo ich am besten hingehen soll.“
Die Schlange sah das kleine Kamel einen Moment unverwandt an und sagte dann, „Ich glaube, du solltest zu der Stadt gehen, von der ein Schakal heute viel erzählt hat. Ich denke, es würde dir da gefallen. Von hier brauchst du ungefähr vier Tage.“ Dann kringelte sie sich zusammen und schloss wieder die Augen.
Das kleine Kamel war durch die Erzählung des Schakals ohnehin neugierig auf die Stadt geworden und fühlte sich in seinem Plan, dorthin zu gehen bestärkt. Bevor es einschlief, nahm es sich fest vor, am nächsten Morgen die Schlange zu fragen, in welcher Richtung die Stadt lag.
Am Morgen war die Schlange aber verschwunden. Etwas enttäuscht füllte das kleine Kamel seine Wassersäcke an der Wasserstelle auf und traf dort auf ein Dromedar, das gerade seine Sachen packte. Das Dromedar besaß ein auffallend helles Fell, trug ein pinkfarbenes, mit Goldfäden durchsetztes, Käppi auf dem Kopf und eine dazu passende Decke auf dem Rücken.
Ohne es zu merken, musste das kleine Kamel das Dromedar angestarrt haben, denn nach einer Weile fragte das Dromedar sichtlich irritiert, „Was guckst du so? Hast du noch nie ein Dromedar gesehen?“
„Nein. Doch! -- Ich meine, noch nicht sehr viele,“ sagte das kleine Kamel verlegen. „Entschuldige, wenn ich dich angestarrt habe. Ich war in Gedanken, weil ich gern in die Stadt gehen würde, von der ein Schakal gestern Abend hier erzählt hat. Leider weiß ich nicht, wo diese Stadt liegt und in welche Richtung ich jetzt gehen soll.“
Das Dromedar schwieg einen Moment und sagte dann, „Ich habe den Schakal von der Stadt reden hören und will da selber auch hin.“
Etwas zögerlich fragte das kleine Kamel daraufhin, ob sie zusammen dorthin gehen könnten. „Ich bin schon so lange unterwegs und möchte mich nicht verlaufen.“
Das Dromedar lachte. „Wer will das schon?“ Dann schaute es das kleine Kamel kurz an und sagte, „Meinetwegen können wir auch zusammen hingehen. Aber dann lass uns gleich loslaufen. Der Weg ist noch weit.“
Am Anfang liefen die beiden schweigend nebeneinander her. Nachdem sie eine Weile unterwegs waren, fing das Dromedar an zu erzählen, wo es schon überall gewesen war. Das kleine Kamel war beeindruckt, fand das Dromedar aber auch ein bisschen eingebildet. Die anderen Tiere, denen die beiden unterwegs begegneten, schienen das kleine Kamel meist gar nicht zu bemerken, weil sie so damit beschäftigt waren, das ungewöhnlich aussehende Dromedar zu beäugen. Das Dromedar schien dies entweder nicht zu merken oder gewohnt zu sein. Wenn ein Tier es gar zu auffällig ansah, sprach das Dromedar es häufig an. Manchmal ergaben sich daraus längere Gespräche und die anderen Tiere erzählten, wo sie hin wollten und warum, oder sie wiesen das Dromedar auf interessante Dinge hin, die sie unterwegs gesehen hatten.
Nach einer Weile begann das kleine Kamel, das Dromedar zu bewundern und auch zu beneiden. Als es allein unterwegs gewesen war, hatte es kaum andere Tiere kennengelernt.
Einmal allerdings hatte das Dromedar Pech. Es hatte einen Skorpion angesprochen, der ihnen entgegen gekommen war. Das Dromedar war schlechter Laune gewesen, weil es so schwitzte, dass ihm sein Käppi ständig vor die Augen rutschte. Außerdem hatte der Wüstenwind mehrmals seine Rückendecke weggeblasen und sie hatten hinterher rennen müssen, um die Decke wieder zu bekommen. Ohne den Skorpion zuerst zu begrüßen, hatte das Dromedar ihn beim Vorbeigehen laut nach der nächsten Wasserstelle gefragt. Woraufhin der Skorpion entrüstet stehen blieb und meinte, er habe nicht die geringste Lust Fragen zu beantworten, wenn er so unhöflich angesprochen werde. Nun regte sich das Dromedar seinerseits gleich sehr auf; und es entstand in kürzester Zeit ein richtiger Streit. Es ging so schnell, dass das kleine Kamel nicht dazu kam, einzugreifen und zu beschwichtigen.
Als der Skorpion zu dem Dromedar „Du blödes Trampeltier“ sagte, warf das Dromedar aufgebracht mit seiner Decke nach ihm. Das hätte es besser nicht getan, denn da stellte der Skorpion seinen Stachel auf und stach das Dromedar ins linke Vorderbein. Das Dromedar schrie laut auf und schnappte nach dem Skorpion, aber der war schon weggelaufen.
Die Stichstelle am Vorderbein schwoll sofort stark an und tat dem Dromedar sehr weh. Das kleine Kamel kühlte die Wunde zuerst mit einem Rest Wasser und verband sie anschließend mit einem Taschentuch. Weil das Dromedar nun nur noch humpeln konnte, kamen sie sehr langsam vorwärts und dem Dromedar ging es zusehends schlechter.
Das kleine Kamel entschied, Halt zu machen. Das Dromedar widersprach erst nicht, aber nach einer Weile fing es an, heftig auf das kleine Kamel einzureden. Das kleine Kamel begriff aber nicht, worum es überhaupt ging, denn das Dromedar sprach immer undeutlicher und wurde immer aufgeregter je weniger das kleine Kamel es verstand. Schließlich sprang das Dromedar auf und lief fest mit dem Kopf schüttelnd im Kreis. Das kleine Kamel versuchte das Dromedar zu beruhigen, aber das lief so lange im Kreis bis es völlig außer Atem war und so verschwitzt war, dass es anhalten musste. Da fing das kleine Kamel an, sich zu fürchten, weil es nicht mehr weiter wusste.
Als das Dromedar wieder anfing, wie von Sinnen im Kreis zu rennen, begann das kleine Kamel, ihm ein Lied vorzusingen. Das kleine Kamel sang erst etwas zaghaft und dann, als das Dromedar verblüfft innehielt und aufhörte den Kopf zu schütteln, immer kräftiger. Das kleine Kamel hatte mit seinen Geschwistern zuhause sehr gern gesungen, aber es hatte sich nie alleine singen gehört und war selbst überrascht wie schön seine Stimme klang.
Als das Lied zu Ende war, wollte das Dromedar gleich wieder loslaufen. Das kleine Kamel fuhr deshalb schnell fort zu singen und sang ohne weitere Unterbrechung alle Lieder durch, die es kannte. Nach dem zweiten Lied kam das Dromedar langsam näher, legte sich vor das kleine Kamel und hörte ihm bis zum Schluss aufmerksam zu.
Als das kleine Kamel sein letztes Lied beendet hatte, hob das Dromedar den Kopf und sagte leise,
„Danke. Deine Stimme hat mich beruhigt. Ich konnte plötzlich alles nur noch verschwommen sehen und auch nicht mehr vernünftig sprechen. Das hat mir große Angst gemacht.“
„Das kam wahrscheinlich von dem Skorpiongift. Wie geht es deinem Bein?“
„Es tut nicht mehr so weh, aber laufen kann ich sicher noch nicht.“
„Dann lass uns jetzt schlafen. Morgen versuchen wir, eine Wasserstelle zu finden.“
Das Dromedar nickte müde.
Das kleine Kamel legte sich daneben und deckte sie beide mit der Decke des Dromedars zu. So aneinandergeschmiegt schliefen sie ein.
Am folgenden Morgen konnte das Dromedar besser laufen und sie gingen gleich los, um eine Wasserstelle zu suchen. Unterwegs trafen sie auf eine Antilope, die ihnen den Weg zum nächsten Brunnen beschrieb. Der Weg dorthin war zwar nicht weit, aber die beiden kamen nur sehr langsam vorwärts. Um das Dromedar ein wenig von seinen Schmerzen abzulenken, brachte das kleine Kamel ihm zwei Lieder bei, die sie unterwegs zusammen sangen. Danach gingen sie, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, eine Weile schweigend nebeneinander her. Plötzlich fing das Dromedar an, ganz viel zu erzählen und erzählte dem kleinen Kamel Dinge, die es sonst noch keinem Tier erzählt hatte. Das Dromedar hatte wirklich schon viel erlebt und nicht alles davon war schön gewesen. Das kleine Kamel hörte aufmerksam zu und fand das Dromedar nun gar nicht mehr eingebildet. Nachdem das Dromedar fertig erzählte hatte, fragte es neugierig, warum sein Freund eigentlich in die Stadt wolle. Erfreut erzählte das kleine Kamel ihm von seiner Familie und warum es die Reise begonnen hatte.
Am Abend erreichten sie einen Brunnen und füllten ihre Wassersäcke auf. Müde suchten sie sich einen Schlafplatz, und es dauerte nicht lange, da waren beide fest eingeschlafen. Am nächsten Tag machte das kleine Kamel einen neuen Verband um das Vorderbein des Dromedars. Die Wunde sah nun wesentlich besser aus, war aber noch leicht entzündet.
Das Dromedar fühlte sich schwach und wollte gern einen Tag pausieren. „Du mußt aber nicht bei mir bleiben und kannst auch schon weitergehen. Ich komme jetzt auch alleine klar.“
„Ich bleibe so lange bei dir, bis du wieder gut laufen kannst,“ antwortete das kleine Kamel bestimmt. „Erst dann können wir getrennter Wege gehen.“
Das Dromedar widersprach nicht und so verbrachten sie den größten Teil des Tages dösend unter einer Palme. Ab und zu liefen Tiere vorbei, die auch zum Brunnen wollten oder von dort kamen. Manchmal hielt eines der Tiere an und die drei unterhielten sich ein bisschen. Das kleine Kamel stellte erstaunt fest, dass es nicht mehr so schüchtern war und sich jetzt viel lieber mit fremden Tieren unterhielt als früher. Auch schienen es die anderen Tiere mehr zu beachten und sprachen nicht immer nur das Dromedar an.
Die restliche Reise zur Stadt dauerte viel länger als das kleine Kamel gedacht hatte, obwohl das Dromedar inzwischen wieder normal gehen konnte. Aber sie kamen trotzdem nicht so schnell voran. wie das kleine Kamel erwartet hatte. Unterwegs sie lernten eine alte Schildkröte kennen, die ihnen unbedingt eine nahegelegene Oase zeigen wollte und sie dorthin mitnahm. In der Oase blieben sie länger als geplant, weil die Schildkröte so viele spannende Geschichten zu erzählen hatte. Als die Schildkröte das kleine Kamel am letzten Abend in der Oase singen hörte, riet sie ihm, bei einem berühmten Musiker in der Stadt, noch mehr Lieder zu lernen. Da die Schildkröte wusste, dass der Musiker nicht gern Besuch bekam, schrieb sie dem kleinen Kamel eine Empfehlung, damit der Musiker es nicht abweisen würde, wenn es zu ihm kam. Das kleine Kamel freute sich sehr und konnte es nun kaum abwarten, endlich in der Stadt anzukommen.
Es sprach jetzt unterwegs die ganze Zeit davon, was es alles machen würde, wenn es endlich in der Stadt angekommen sei. Nach einer Weile ging das Gerede dem Dromedar so auf den Nerv, dass es immer schneller lief. Die beiden fingen an zu streiten, und das Dromedar sagte am Abend als sie sich schlafen legten, dass es den Rest des Weges nun allein gehen wolle.
„Die Stadt ist nicht mehr weit und du findest den Weg dorthin jetzt auch ohne mich. Spätestens in der Stadt hätten sich unsere Wege ja ohnehin getrennt, denn ich werde dort nicht bleiben, sondern nach ein paar Tagen weiterziehen.“
„Wie du meinst,“ antwortete das kleine Kamel und machte ein gleichgültiges Gesicht.
„Dann ist das beschlossene Sache,“ meinte das Dromedar und drehte dem kleinen Kamel den Rücken zu. Als das kleine Kamel am nächsten Morgen aufwachte, war das Dromedar schon weg.
Traurig machte sich das kleine Kamel auf den Weg. Es ging so schnell wie es konnte, aber das Dromedar war nirgendwo mehr zu sehen. Als das kleine Kamel endlich die Stadt in der Ferne auftauchen sah, dämmerte es schon. Zu seiner Verwunderung war die Stadt vollständig von einer großen Mauer umgeben. Obwohl das kleine Kamel zügig ging, erreichte es die Stadt erst in den frühen Morgenstunden. Dort angekommen trank es sein restliches Wasser, legte sich erschöpft neben das geschlossene Stadttor und schlief ein.
Als das kleine Kamel am folgenden Morgen aufwachte, war das Tor schon auf und es herrschte reger Verkehr. Das kleine Kamel lief freudig auf das geöffnete Tor zu, wurde aber zu seiner Überraschung von den beiden Wächtern, die links und rechts standen, aufgehalten.
„Es ist für Tiere verboten, durch dieses Tor zu gehen,“ sagte der eine Wächter barsch. Der andere Wächter bemerkte wie die Augen des kleinen Kamels verdächtig zu glänzen begannen und er sagte schnell, „Es gibt aber noch zwei andere Stadttore.“
Mit den Tränen kämpfend sah das kleine Kamel dem Treiben vor dem Tor so lange zu, bis es sich wieder gefasst hatte und lief dann an der Stadtmauer entlang bis zum nächsten Tor. An diesem Tor gab es ein großes Schild, auf dem stand, dass das Tor jeden Tag nur vormittags drei Stunden geöffnet sei. Wütend klopfte das Kamel an die Tür neben dem Tor. Nach einer Weile öffnete ein Wächter. Das kleine Kamel erzählte ihm seine Geschichte und bat um Eintritt.
Der Wächter bedauerte, dass es zu spät gekommen war, verweigerte ihm aber den Zutritt in die Stadt, da er sonst bestraft würde. „Was ich aber tun kann, ist, dir etwas zum Essen und zum Trinken zu bringen,“ sagte er und schloss dann die Tür.
Das Kamel wartete so lange, bis es müde wurde und einschlief. Als es wieder aufwachte, stand ein Tablett mit Wasser, Obst und süßem Gebäck vor ihm. Erfreut aß das Kamel alles auf und wartete dann ungeduldig auf den nächsten Morgen.
Als das zweite Tor aufgemacht wurde, standen schon sehr viele Leute davor und das Kamel musste lange warten bis es an der Reihe war. Entsetzt stellte es fest, dass das zweite Tor viel kleiner war als das erste und dass es dort gar nicht hindurch passte.
Ängstlich fragte das kleine Kamel einen der beiden Torwächter nach dem dritten Tor. „Ist das auch so klein? Dürfen da auch keine Tiere hindurch?“
„Ich glaube nicht, aber genau weiß ich es nicht,“ sagte der Wächter und machte das Tor zu.
Bekümmert ging das kleine Kamel langsam an der Stadtmauer entlang bis zum dritten Stadttor. Ohne Überraschung stellte es fest, dass das Tor schon geschlossen war und klopfte an die Tür daneben. Als ihm der Wächter öffnete, bat es müde um etwas zum Essen und zum Trinken. Der Wächter nickte und schloss die Tür wieder. Auf eine lange Wartezeit gefasst, schlief das kleine Kamel gleich ein und erwachte erst als sich ein köstlicher Essensgeruch verbreitete. Dieser Wächter hatte ihm ein Tablett mit verschiedenen Speisen und Getränken hingestellt. Sehr erfreut vergaß das kleine Kamel seinen Kummer und aß solange, bis es vollkommen satt war.
Am folgenden Morgen stand das kleine Kamel früh auf und stellte sich gleich vor das Tor. Um sieben Uhr hörte es wie jemand den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Dann traten zwei Wächter aus der Seitentür und schoben mit vereinten Kräften das Tor auf. Staunend kam das kleine Kamel näher und blickte durch das Tor. Es sah große braune Lehmhäuser, die mit kunstvollen weißen Mustern bemalt waren, Männer in langen Gewändern, die einen Dolch trugen – und dann versperrte ein Wächter seine Sicht.
Er blickte das kleine Kamel prüfend an.„Du darfst hier nicht rein,“ sagte er.
„Warum nicht?“ fragte das kleine Kamel kampflustig.
„Du bist noch zu klein.“
„Zu klein?“ wiederholte das Kamel ungläubig und der Wächter nickte. „Aber für das andere Tor war ich doch zu groß.“
Der Wächter zuckte gleichgültig die Schultern. „Das passiert manchmal. Aber du wächst ja noch. Komm einfach wieder, wenn du groß genug bist.“ Er sagte dem kleinen Kamel genau, wie viel es noch zu wachsen hatte und wandte sich dann den anderen Wartenden zu.
Das kleine Kamel brach in Tränen aus. Laut schluchzend trat es zur Seite damit die, die hinter ihm standen, besser durch das Tor passieren konnten.
Ein Huhn, das aus der Stadt kam, sah das kleine Kamel und ging zu ihm herüber. Das Huhn fragte nicht, warum es so weinte, und wartete einfach bis das kleine Kamel sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Dann erkundigte es sich, ob das kleine Kamel Hunger oder Durst habe.
„Ich brauche nichts,“ sagte das kleine Kamel missmutig. „Ich wollte in die Stadt hinein und jetzt darf ich wieder nicht. Erst war ich zu groß, dann zu klein.“
Das Huhn nickte und sagte, „Das passiert vielen.“
Das kleine Kamel sah sich um, aber außer ihnen stand jetzt niemand mehr vor der Stadtmauer.
Das Huhn lachte gackernd. „Du glaubst mir nicht!“ Dann trippelte es langsam davon und das kleine Kamel sah ihm verärgert hinterher.
Während des Tages wurde es immer heißerund das kleine Kamel legte sich in den Schatten eines Baums, um zu überlegen, was es nun tun sollte. Gegen Abend bekam es Hunger, klopfte wieder an die Seitentür und bat den Wächter erneut um Essen und Trinken.
Der Wächter erkannte das kleine Kamel wieder und brachte ihm kurze Zeit später ein gut bestücktes Tablett. „Du solltest jeden Abend zu einem anderen Tor gehen, um dort zu essen. Du wirst immer etwas bekommen. So bald du groß genug bist, lasse ich dich in die Stadt.“
„Aber wie lange wird das dauern?“
Der Wächter zuckte mit den Schultern. „Das kann ich dir nicht sagen.“
„Und warum darf das Huhn, das so viel kleiner ist als ich, durch das Tor?“ fragte das kleine Kamel aufmüpfig.
„Für Hühner gelten andere Regeln,“ antwortete der Wächter und verschwand hinter der Tür.
Nachdem der Wächter gegangen war, begann das Kamel, langsam zu essen und dachte nach. Es entschloss sich zu bleiben und es so zu machen wie der Wächter es vorgeschlagen hatte.
Am nächsten Abend ging es zum ersten Tor, am darauffolgenden zum zweiten und dann zum dritten, um um Essen zu bitten. Falls die anderen Wächter sich wunderten, sagten sie jedoch nichts und brachten ihm immer ausreichende, wenn auch nicht mehr so üppige Mahlzeiten wie am Anfang.
Wann immer sich ihm Gelegenheit dazu bot, schaute das kleine Kamel neugierig durch die Tore. Es konnte sich gar nicht satt sehen an den hohen, braunen Häusern mit den symmetrischen
weißen Mustern und Rundbögen. Manchmal standen große Palmen vor einem Haus oder über und über blühende Bougainvilleas. Wenn das kleine Kamel durch das zweite Tor schaute, konnte es die goldene Kuppel einer Moschee und mehrere Minarette sehen. Unweit von der Moschee musste es einen Basar geben. Oft konnte das kleine Kamel die Händler rufen und ihre Ware anpreisen hören. Ab und zu sprach es Leute an, die aus der Stadt kamen und bat sie, ihm etwas über die Stadt zu erzählen. Je mehr das kleine Kamel von der Stadt sah und hörte, desto besser gefiel sie ihm.
Aber das kleine Kamel wuchs nur langsam. Mit der Zeit freundete es sich mit anderen Tieren an, die auch außerhalb der Stadtmauern lebten. Manche mochte es sehr gern und nach einer Weile achtete das kleine Kamel nicht mehr so genau darauf, wie viel es wuchs. Wenn es durch die Tore schaute, hielt es auch immer mal wieder Ausschau nach dem Dromedar. Am Anfang meinte es, ein- oder zweimal ein pinkes Käppi erspäht zu haben, aber dann war es gleich in der Menge verschwunden. Inzwischen war das Dromedar wohl längst weiter gezogen.
Die besten Freunde des kleinen Kamels waren das Huhn, das es einmal angesprochen hatte, und eine alte Katze, die schon lange vor der Stadt wohnte.
Einmal als alle drei vor dem dritten Stadttor standen und den Leuten zusahen, die in beide Richtungen durch das Tor passierten, kam ein Mann auf sie zu und fuhr sie an: „Was steht Ihr hier mitten im Weg? Immer lungert Ihr hier rum und tut nichts außer dumm glotzen. Verschwindet endlich, Ihr faules Pack!“
Das Huhn flatterte aufgeregt davon, aber die Katze fauchte den Mann an.
Da schimpfte der Mann erst richtig los, woraufhin die Katze ihre Krallen zeigte und ihm die Zunge herausstreckte.
Besorgt trat das kleine Kamel zwischen die beiden. „Aufhören!“
Die beiden sahen das kleine Kamel überrascht an.
Das kleine Kamel sagte zu dem Mann, „Wir stehen hier niemandem im Weg und sind auch nicht faul. Überhaupt gibt es keinen Grund uns zu beschimpfen.“
Die Katze nickte und lächelte zufrieden, aber der Mann hob Hand.
„Halt!“ schrie das kleine Kamel, „Ich bin noch nicht fertig.“ Es wandte sich an die Katze und meinte, „Aber du hast dich auch dumm benommen.“
Daraufhin war die Katze so böse, dass ihre Schnurrbarthaare zitterten.
Der Mann schaute von einem zum anderen und fing plötzlich an zu lachen. „Ich glaube, ich bin es, der sich dumm benommen hat,“ sagte er etwas verlegen als er wieder ernst geworden war. „Wollt Ihr eine von meinen Datteln? Ich war eben sehr schlecht gelaunt, weil ich heute kaum welche verkauft habe und noch so viele übrig sind.“ Er reichte den beiden eine Handvoll Datteln und ging dann schnell weiter.
„Puh,“ sagte das kleine Kamel, „das ist ja noch mal gut ausgegangen.“
Als das Huhn zurückkam, erzählten die beiden was passiert war, nachdem das Huhn weggeflattert war und teilten sich mit ihm die Datteln. Obwohl das kleine Kamel über den guten Ausgang des Streits erleichtert war, war es an dem Abend auch ein wenig traurig. Der Zwischenfall hatte es nämlich an den Streit des Dromedars mit dem Skorpion erinnert.
Wie schon so oft zuvor, schaute das Kamel in dieser Nacht in den Sternenhimmel, bevor es einschlief. Plötzlich sah es eine Sternschnuppe und wollte sich gleich wünschen, dass es am nächsten Tag durch das Tor in die Stadt gehen könnte. Aber dann hielt es inne, weil es merkte, dass das gar nicht mehr sein größter Wunsch war. Das Kamel schloss die Augen und wünschte sich mit aller Kraft das, was es wirklich wollte. Es musste länger so gestanden haben als es gemerkt hatte, denn als es die Augen wieder öffnete, fing es schon an zu dämmern.
„Hier bist du also,“ flüsterte jemand neben ihm.
Das Kamel schaute sich um, sah das weiße Dromedar und fing vor Freude an, leise zu weinen. „Ich dachte schon, ich sehe dich nicht wieder.“
„Das dachte ich auch und deshalb habe ich vor einer Weile angefangen, nach dir zu suchen. Als ich ohne dich weiter gegangen bin, war es irgendwie anders als vorher, wenn ich ohne einen Freund weitergezogen bin. Denn immer wenn ich etwas Neues gesehen oder erlebt habe, wollte ich dir davon erzählen. Wenn ich mich irgendwo sehr wohl gefühlt habe, habe ich mir plötzlich gewünscht, du wärest auch da. Oft wollte ich einfach gern wissen, was du von dieser oder jener Sache denkst. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich sogar lieber mit dir streiten würde, als dich gar nicht zu sehen. Da wusste ich, dass ich dich suchen muss.“
Das Kamel wischte sich eine Träne weg. „Seit ich dich kenne, mag ich andere Tiere viel lieber und habe viel mehr Lust sie kennenzulernen als früher.“
Das Dromedar lächelte. „Möchtest du jetzt mit mir in die Stadt gehen?“
Ohne nachzudenken, nickte das Kamel, nahm alle seine Sachen und dann gingen sie gemeinsam durch das dritte Tor, ohne von den Wächtern aufgehalten zu werden.
Copyright 2015 by Sylvia Bolton