Das Päckchen
Miroslaw hatte dreimal geklingelt. Es machte niemand auf. Er versuchte es bei einer Nachbarin. Die alte Frau öffnete zwar das Fenster, aber als sie hörte, dass das Päckchen nicht für sie war, schüttelte sie entrüstet den Kopf und schloss das Fenster wieder. Am Anfang hatte sich Miroslaw über ein solches Verhalten noch gewundert. Inzwischen war er es gewohnt. Er versuchte nur, sich die Leute zu merken, um nicht immer wieder umsonst zu warten oder sich Beschwerden anhören zu müssen. Es gab einige, die meinten sie könnten endlich ihren über Jahre angesammelten Frust über einen Nachbarn bei Miroslaw loswerden. An die musste Miroslaw sich aber nicht extra erinnern, die vergaß er ohnehin so schnell nicht.
Miroslaw füllte schnell den roten Benachrichtigungsschein aus und warf ihn in den Briefkasten. Er kannte den Empfänger des Päckchens vom Sehen. Ein älterer Mann mit schütterem Haar, der viel Wert auf seine Kleidung zu legen schien und doch nie wirklich gut angezogen aussah. Aber das war nicht der Grund, warum er Miroslaw aufgefallen war. Der Mann war groß und kräftig, bewegte sich jedoch überraschend geschmeidig. Auf Miroslaw machte seine Art sich zu bewegen, einen unmännlichen Eindruck und er fand den Mann gleich unsympathisch, ohne dass er genau hätte sagen können warum. Das hatte sich dann im letzten Jahr für eine Weile geändert. Miroslaw, der den Mann selten sah, war dessen Veränderung sehr plötzlich erschienen. Auf einmal wirkte der Mann deutlich jünger, war dünner und von einer ansteckenden Heiterkeit. Aber auch diese Heiterkeit hatte für Miroslaw etwas Weibliches. Nicht dass er sich darüber viel Gedanken gemacht hätte. Er kam einfach zu dem Schluss, der Mann sei schwul. Wie sich herausstellte, war er das aber nicht. Miroslaw hatte ihn im Frühjahr sich einmal von seiner Freundin verabschieden sehen und es war offensichtlich, dass es sich hier nicht um eine platonische Beziehung handelte. Obwohl beide schon älter waren, sahen sie sehr verliebt und glücklich zusammen aus.
Danach hatte Miroslaw den Mann lange nicht gesehen. Das wäre ihm vermutlich nicht einmal aufgefallen, hätte der Mann nicht bei der ersten Begegnung seit langem so schlecht ausgesehen. Er trug eine tiefgrüne Lodenjacke mit Hirschknöpfen, die ihm nicht stand, das Haar war noch schütterer als vorher und mit Pomade am Kopf festgeklebt, seine Gesichtshaut rötlich und fleckig. Von der ehemaligen Heiterkeit war nichts übrig geblieben. Die katzenartig eleganten Bewegungen standen nun in einem noch stärkeren Kontrast zu der konservativen Kleidung und dem zwar gepflegten aber doch nicht ansprechendem Äußeren.
So bald Miroslaw den Benachrichtigungsschein in den Briefkasten gesteckt hatte, ging er mit dem wattierten Umschlag zurück zum Lieferwagen und legte das Päckchen zu den anderen nicht ausgelieferten Sendungen. Am späten Nachmittag räumte sein Kollege den Wagen aus. Der Lagerraum der Hauptfiliale war schon übervoll und der Kollege quetschte den Umschlag zwischen zwei größere Pakete auf das oberste Regal. Die beiden Pakete wurden am darauffolgenden Tag abgeholt. Der wattierte Umschlag blieb liegen. Der Mann hatte den Benachrichtigungsschein zwar aus dem Briefkasten genommen, war aber nicht zur Post gegangen, um das Päckchen abzuholen. Nach zehn Tagen ging eine der Postangestellten die Sendungen im Lagerraum durch, sah das Päckchen und warf es in den großen, viereckigen Plastikbehälter für Pakete, die zurück an den Absender geschickt wurden. Für die Post waren diese Rücksendungen lästig und daher dauerte es noch weitere sechs Wochen bis das Päckchen wieder bei der Postfiliale landete, wo es abgesandt worden war.
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In dem kleinen Ort war der blonde Postzusteller allen bekannt und sehr beliebt. Er hatte ein rundes, weiches Gesicht und trug meist eine blaue Kappe unter der sein völlig verstrubbeltes Haar hervorlugte. Bei der Arbeit pfiff er fast immer. Das Einzige, das seine gute Laune erschüttern konnte, waren Hunde, die ihm beim Zustellen laut anbellten. Da konnte er ausgesprochen wütend werden, aber das hielt in der Regel nicht lange an. Er unterhielt sich gern und hatte auch gegen einen Kaffee oder Schnaps zwischendurch nichts einzuwenden. Er wusste genau, welche Nachbarn sich nicht mochten, welche Leute nicht aufmachten, egal ob sie zuhause waren oder nicht und bei wem er Päckchen und Pakete hinterlegen konnte.
Als er den wattierten Umschlag mit dem grünen Rückaufkleber sah, hielt er ihn etwas unschlüssig in der Hand. Vermutlich würde er das Päckchen nicht zustellen können, morgens war dort niemand zuhause. Ob er es bei der Vermieterin abgeben sollte? Er hatte zwar nichts gegen sie, weil sie ihm häufig einen Kaffee anbot, wusste aber, dass sie ihre Mieterin nicht mochte und schlecht über sie redete. Sicher war es besser, das Päckchen nicht bei der Vermieterin abzugeben. Er stieg aus dem Lieferwagen und klingelte bei der Wohnung im ersten Stock. Wie erwartet machte niemand auf, aber die Gardine im Erdgeschoss bewegte sich. Der Zusteller klingelte nicht noch mal, wie er das sonst üblicherweise machte, sondern beeilte sich zurück zum Lieferwagen zu kommen. Leicht schnaufend legte er den wattierten Umschlag auf den Sitz neben sich und fuhr weiter. Das Päckchen landete wieder im Lagerraum, aber diesmal auf dem Regal in Augenhöhe gleich neben der Tür. Beim Einräumen der nicht ausgelieferten Postsendungen am folgenden Tag fiel dem Zulieferer auf, dass er am vorigen Tag in der Eile vergessen hatte, der Empfängerin des wattierten Umschlags eine Benachrichtigungskarte in den Postkasten zu legen. Fluchend füllte er eine rote Karte aus, fuhr beim Nachhauseweg bei der Frau vorbei und steckte die Karte in den Kasten.
An diesem Abend war die Frau müde und erschöpft von der Arbeit nach Hause gekommen. Da sie kein Päckchen erwartet hatte, freute sie sich besonders als sie die Benachrichtigungskarte im Briefkasten sah. Sie musste sich aber bis Samstag vormittag gedulden, da sie es unter der Woche nicht schaffte, zur Post zu gehen, bevor diese schloss. Samstag ging sie voller Vorfreude gleich zur Post als diese aufmachte und war dann umso enttäuschter als sie dort nur ihr eigenes Päckchen zurück erhielt. Sie steckte es in ihre Einkaufstasche und legte es später auf den Wohnzimmertisch. Dort lag der Umschlag bis sie sich am Sonntag abend einen Kaffee machte, aufs Sofa setzte und den Umschlag öffnete. Sie zog das liebevoll eingepackte Geschenk heraus und fing an zu weinen. Das Geschenk war teuer gewesen und sie hatte beim Einpacken noch gedacht, dass sie es nur zu gern behalten hätte. Nun, wo das Geschenk vor ihr lag und sie nicht wusste, warum es nicht angenommen worden war, wusste sie nichts mehr damit anzufangen.
Ohne es auszupacken, legte sie es in die Vitrine, wo die kräftigen Farben des schönen Geschenkpapiers während der folgenden drei Sommer langsam verblassten. Als sich die Mutter der Frau bei einem Besuch über das inzwischen nicht mehr sehr ansehnliche, noch immer nicht ausgepackte Geschenk mokierte, nahm sie es nach dem Besuch aus der Vitrine und legte es, so wie es war, hinten in ihren Kleiderschrank. Dort begann es nach einer Weile leicht nach den Mottenkugeln zu riechen.
Das Geschenk fiel ihr erst wieder in die Hände als sie wegen eines Umzugs den Schrank komplett ausräumte und sauber machte. Es war spät abends gewesen. Sie war gestresst und hatte das Geschenk aus Versehen in den Putzeimer fallen lassen. Mit einem Aufschrei holte sie es aus dem bräunlichen Wasser und legte es auf die Heizung. Dort trocknete es über Nacht. Danach war das verblichene Papier wellig und die Klebestreifen hatten sich halb abgelöst. In der neuen Wohnung wollte die Frau das zurückgekommene, unansehnliche Geschenk nicht haben und stellte es mit dem alten Fernseher und ausrangierten Kleidern in den Kellerraum.
Irgendwann brach jemand mehrere von den Vorhängeschlössern der Kellerabteile auf und stahl einige Sachen. Den alten Fernseher und die ausrangierten Kleider ließ er stehen, aber das Geschenk nahm er mit. Dass es fehlte, fiel der Frau erst gar nicht auf. Erst Monate später als sie jemand von dem Einbruch erzählte, erinnerte sie plötzlich an das Geschenk und dass sie es nach dem Einbruch nicht mehr gesehen hatte. Erschrocken fragte sie sich, warum sie es niemals ausgepackt und benutzt hatte.
Copyright 2016 by Sylvia Bolton